Ich bin das Wasser oder das potenzierte Ich (von Ulla Hocker) Peter Barthold Schnibbe (von Dr. Rainer Beßling) Aus einem Brief von Otto Quirin vom 5.Juni.2009
|
Peter Barthold Schnibbe von Dr. Rainer Beßling Das Bild entstand vor gut 30 Jahren. Peter Barthold Schnibbe malte es als erstes farbiges Bild nach dem Studium, mit programmatischem Charakter. Zu sehen ist eine amerikanische Landschaft, im Mittelpunkt ein „Highway“, so auch der Bildtitel, als Verheißung von Freiheit und Mobilität in Asphalt. Der Horizont liegt tief. Ein fahler blauer Himmel füllt und öffnet die Kulisse. Flirrende Sommerhitze hängt über der Straße. Links und rechts erstrecken sich große Felder. Telegrafenmasten säumen den Weg, Kommunikations- und Verkehrsadern, die das riesige Land verbinden, das ebenso von seinen urbanen Ballungsräumen wie von endlos weiten Landschaften geprägt ist. Amerika ist früh zu einem Thema des Künstlers geworden. Die eigene Biografie hat seinen Blick auf den inzwischen nicht mehr so fernen Kontinent gelenkt. Aufgewachsen in Bremerhaven in Küstennähe und direkt an einer Gelenkstelle der Wasserwege, Sohn eines Kapitäns, lagerte Peter Barthold Schnibbe die Projektionen ein, die durch die Fahrten des Vaters immer neue Nahrung bekamen. Wie sieht es auf der anderen Seite des Meeres aus? Fernweh und Sehnsucht, Erwartung und Melancholie vermischten sich. Passagen und Wege, Abreise und Ankommen wuchsen zum Motivkreis zusammen. So scheint es nicht zufällig, dass ein frühes Bild des Künstlers eine Straße darstellt. Eine amerikanische Straße, die auf den ersten Blick nichts Auffälliges zeigt, die eine stille äußere Realität abbildet, der eine bewegte innere Wirklichkeit eingelagert ist. Sie führt auf einen weit gespannten Horizont zu, auf eine Fläche, die weitesten und zugleich persönlichsten Projektionen dienen kann. Die Malweise lässt an Edward Hopper denken, den großen Porträtisten Amerikas in all seinen Facetten, vor allem aber im Binnenleben, in der Beschaffenheit der Beziehungen, in der Qualität der Begegnungen, die in atmosphärisch dichten Räumen geschildert sind: im Hotelzimmer, am Strand, auf der Landhausveranda, in der Natur. Geschult an der Malerei der Impressionisten, deutet Hopper das Licht zu Beziehungskoordinaten um und lässt die Farben von der emotionalen Qualität eines widersprüchlichen Zusammenlebens sprechen. Auch Peter Barthold Schnibbe verwendet in seinem „Highway“ Momente impressionistischer Malerei, den Pinselduktus, die Raumbeherrschung und kompositorische Kraft des Lichts. Zugleich verweigert er sich nicht dem Abbild. Er bietet es dem Betrachter als Bühne für vielschichtige Inszenierungen an, deren Motive, Themen und Protagonisten sich erst bei näherem Hinsehen erschließen. Dieser Grundzug in der Malerei Peter Barthold Schnibbes, der sich im Laufe mehrerer Werkphasen unterschiedlich ausgeprägt hat, lässt sich durch das zentrale Interesse des Künstlers erklären. Er lenkt seinen Blick auf Orte und Landschaften, die Geschichten erzählen und in denen er seine eigene Geschichte findet. Er protokolliert Situationen und Szenen, hält Begegnungen fest, die Erinnerung wachrufen oder emotionale Resonanz auslösen. Die Szenen, Figuren und Landschaften sind gesehen, nicht unbedingt immer in der ersten Realität, durchaus auch als Medienbilder. Sie wirken in unterschiedlichen Abstufungen von der Naturnähe bis an der Schwelle zur Abstrahierung real. Sie sind allerdings schon im Moment ihrer Wahrnehmung mit der Welt des Künstlers kurzgeschlossen. Peter Barthold Schnibbes Bekenntnis zur Subjektivität, das nicht selten in gemalter Biografie mündet, ist Programm. Was macht ein Motiv bildwürdig? Was weckt die Aufmerksamkeit des Künstlers? Welche Ansicht elektrisiert? Es lohnt, den Fragen nachzugehen, weil in den Antworten auch Aufschlüsse über die Wirkung der Bilder auf den Betrachter zu finden sind. Denn der Künstler gibt in seinen Bildern das Empfinden weiter, das ihn bei einer Landschaft, einer Szene, einer Person bildhaft andocken lässt. Es muss ein Überraschungsmoment da sein, das den Künstler eine Einzelwahrnehmung aus dem Strom des visuellen Angebots herausschneiden lässt. Eine Erinnerung wird geweckt, eine Empfindung gewinnt einen Resonanzkörper, ein Gefühl erhält eine Behausung. Etwas Diffuses klärt sich, Ungreifbares wird Gestalt. Oder aber ein Rätsel verspricht lohnende Dechiffrierung. Das Ich des Künstlers geht vor Anker. Und auch der Betrachter kommt zu sich selbst. Objektive und individuelle Wirklichkeiten treffen in realistischen Szenerien aufeinander. Der Religionsphilosoph Martin Buber, der das dialogische Prinzip in das Zentrum seiner Weltanschauung gestellt hat, fasst den Grundcharakter künstlerischen Schaffens in einer prägnanten Form: „Das ist der ewige Ursprung der Kunst, da einem Menschen Gestalt gegenüber tritt und durch ihn Werk werden will. Keine Ausgeburt seiner Seele, sondern Erscheinung, die an sie trifft und von ihr die wirkende Kraft erheischt. Es kommt auf eine Wesenstat des Menschen an: Vollzieht er sie, spricht er mit seinem Wesen das Grundwort zu der erscheinenden Gestalt, dann strömt die wirkende Kraft, das Werk entsteht.“ Oft liegt längere Zeit zwischen den Funden des Künstlers und ihrer Verwertung und Bearbeitung an der Staffelei im Atelier. Die Bilder werden so auch Vergewisserung über das Gesehene und Auseinandersetzung mit der Intensität und den wechselnden Ausprägungen des Nachklangs der Begegnungen. Subjektive Empfindungen und individuelle Geschichte reichern das Abgebildete an, die Darstellung löst sich von der ursprünglichen Wahrnehmung, Gegenwart zieht in das Geschehen ein, so dass auch Rückgriffe in die Vergangenheit immer der Selbstbefragung des Künstlers zum Zeitpunkt der Werkentstehung dienen. Einzelne Elemente der erinnerten oder gefundenen Bilder werden verändert, bestimmte Spuren verstärkt, Figuren ausgetauscht, Momente der Biografie des Künstlers eingebaut. Will man im Fall der Malerei Peter Barthold Schnibbes von Realismus sprechen, so handelt es sich um ein Wirklichkeitsprotokoll mit starker atmosphärischer Übersteuerung und Expressivität. Die Darstellungen transportieren in ihrem Grundpuls und Gesamtklang tiefe innere Verbundenheit des Malers mit der Szene. So wie der Künstler bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit in aller Regel auf Farbausdruck reagiert, setzt er die Farbe auch selbst als zentrales Instrument ein. Auf den „Highway“ folgte ein Bild, das seinen Anfangsimpuls aus einem Aufenthalt des Künstlers in Kanada gewonnen hat. Beim Zelten ist er dort Wölfen aus der Entfernung begegnet. Ein Rudel strich heulend vorbei, eine ganz eigene akustische Begegnung im Dunkel der Nacht. Am Tag darauf zeigte sich eines der Tiere. Der Wolf gilt traditionell als Symboltier des einsamen Wanderers, ist aber gleichwohl auch fest eingebunden in ein soziales Gefüge. In vielen Indianerstämmen gilt er als Pfadfinder. Hier ist das Tier dem Erlebnis des Künstlers und einer allgemeinen Vorstellung entsprechend schemenhaft gemalt: Er taucht auf und entzieht sich bereits wieder. Der Körper ist in schwimmende, schwebende Konturen gefasst, Nachklang der nächtlichen unscharfen Begegnung und eine bildhafte Darstellung der dem Wolf eigenen Scheu, auch des Wolfes in uns, der sich in den Leerstellen des Körpers als Projektion einlagern könnte. Einen festen Platz im Motivrepertoire Peter B. Schnibbes nehmen Häuser ein, nicht selten Gebäude, die ein unverwechselbares Gesicht besitzen. Fenster wie Augen scheinen den Blick des Betrachters zu erwidern. Die Architekturen strahlen eine gewachsene Persönlichkeit und individuelle Aura aus. Sie changieren zwischen Abgeschlossenheit und Offenheit, Festigkeit und permanentem Übergang. Sie tragen Geschichte in sich und lassen verborgene Geschichten vermuten. Sie wirken nicht selten verlassen und sind zugleich einladend, verheißungsvoll in Bezug auf mögliche kommende Bewohner und beschwert vom Vergangenen. Eine stille, schwere Melancholie lastet auf ihnen. Manchmal lässt Farbharmonie sie mit ihrer Umgebung verschmelzen, manchmal thronen sie nahezu unwirklich über der Landschaft und verströmen einen surrealen Sog, geheimnisvoll und unheimlich, wie die „Most exclusive residence for sale“. Herrschten anfangs Blautöne vor, erweitert der Maler in dieser Werkphase zunehmend die Palette, bringt vitales Rot mit ins Spiel und als weitere Grundfarbe Gelb hinzu. Charakteristisch bleibt ein enger Farbrahmen, der den Darstellungen eine Grundharmonie und Geschlossenheit sichert. Auf die frühen Arbeiten, in der die Kompositionen noch nahe an der realen Erscheinung liegen, folgen Bilder, die von bewegten Farbflächen und fließenden Konturen bestimmt sind. Hier ist ein Einfluss Edvard Munchs zu erkennen. Eine symbolistisch bestimmte Expressivität lädt Landschaften und Figuren mit glühender Farbigkeit und Bewegung auf. In dem Bild „Downtown St. Louis" schneidet der Maler ein Stück aus dem Stadtbild heraus, lässt eine Lampe die Szene beleuchten und aus dem Bild heraus scheinen. Nur schemenhaft tritt hier die Silhouette einer Straßenansicht dem Betrachter entgegen. Der flüchtige Blick des Passanten ist dabei genauso eingefangen sein wie die diffuse nächtliche Atmosphäre selbst, die wechselnde, anregungsreiche Schemen in die Stadt zeichnet. Ein Schritt vom Außen- und in den Innenraum: Das Bild „Unknown" zeigt einen Blick in den Rücken einer unbekleideten Frau. Die dunkle Szene ist aufgeladen mit Rätsel und Erotik und schwankt zwischen Verbergen und Offenbaren. Das Gesicht ist kaum erkennbar. Scheu oder Scham, Versunkenheit oder Koketterie lassen die Protagonistin ihren Kopf senken. Weibliche Anziehungskraft steigert sich hier in der Abwendung, körperliche Präsenz überstrahlt das Dunkel. Die erdigen Farbtöne und loderndes Gelb lassen das Interieur zusammen mit dem Körper als harmonischen, von innerer Spannung angefeuerten Kosmos erscheinen. Der im Schatten liegende Körper scheint Glut auf eine Wand zu projizieren. Gitterfenster liegen hinter der Figur. Sie scheinen nicht wirklich Licht herein zu lassen, sondern wirken wie mit in die intime Szene eingeschlossene Lichtbalken. Auch die Atmosphäre im Offizierscasino ist vom Charakter einer geschlossenen, fest zusammen geschweißten Gesellschaft geprägt. Die Perspektive ist sehr speziell: Die Beine einer Frau in kurzem Kleid sind aus der Untersicht dargestellt. Ein voyeuristischer, schamfreier Blick, der die erotische Ausstrahlung offen aufnimmt. Die Beine, als Signal ins Bild gerückt, bilden buchstäblich die kompositorische Achse. Die Gespräche des Casino-Publikums an den Tischen erhalten so eine recht eindeutige Konnotation. Das Thema der Begegnung kumuliert so in Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Begehren. Der Soundtrack der urbanen Atmosphäre ist der Jazz. Der Jazz, dessen Protagonisten Schnibbe in zahlreichen Bildnisse porträtiert, stellt die Klangkulisse in den Bars, nimmt den Rhythmus und die Vitalität der Städte auf. Er spiegelt Körperlichkeit in seinen Grooves, formuliert lebenssatte oder auch lebensmatte Melancholie, aber auch fordernden Lebenshunger in den Melodien, schichtet Harmonien voller Reibungen aufeinander, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit spiegeln, bringt Freiheitsstreben und die Neugier auf unbekannte, nicht nur musikalische Terrains in Improvisationen zum Ausdruck. Eine bewusst begrenzte Farbpalette bindet die Szenerie zusammen und grundiert sie mit einem bestimmten Basisklang. Die Stadträume erhalten den Charakter eines eigenen Kosmos, wirken abgeschirmt, beim Blick, den der Maler öffnet, fühlt sich der Betrachter wie ein Zaungast. Eine stillere Variante des Stadtthemas, das der Künstler in einer länger anhaltenden Werkphase durchsspielt, stellt das Bild „Liz" dar. Eine junge Frau steht in einer merkwürdig unbestimmten urbanen Landschaft. Am hinteren Bildrand reihen sich Fragmente von Häuserfassaden auf. Im Mittelpunkt liegt mehr fließend als ruhend eine Bodenfläche in warmen Erdfarben, durchzogen von glühenden Lichtbahnen. Die Frau hält eine Tasche in der rechten und einen aufgeklappten Schirm in der linken Hand. Sie schaut aus dem Bild, dem Betrachter in die Augen, ihr Gesichtsausdruck ist ernst und fest. Ihr Blick könnte einer Person außerhalb des Bildes, aber in der Geschichte gelten, in der sie eine Rolle spielt, die nicht eindeutig zu bestimmen ist. Die Szene zeigt die Frau allein, doch das Bild ist von Begegnung aufgeladen. Erzählt es von Abschied oder Aufbruch? Schließt hier eine Geschichte oder leitet das Warten eine neue Episode ein? Endet oder beginnt Zweisamkeit? Die Frau wirkt bestimmt und gefasst in ihrer schlichten Eleganz, die im Kontrast steht zu dem eher tristen, einfachen Stadtraum. Rätsel und Geheimnis sind dem äußerlich klar komponierten Bild durch die fließende Farbigkeit eingewoben, die ihrerseits Begegnung und Übergang, die emotionalen Aufruhr, Wärme und Feuer spüren lässt. Rätselhaft steht auch ein Schlagzeugkoffer im Bild, dessen harten Konturen sich an dem Grundklang der Komposition reiben. Der Koffer trägt die Initialen des Malers, der selbst auch Schlagzeuger ist. Soll hier Biografisches angedeutet werden? Erlebtes wird sicher nicht direkt abgeschildert, die Grundszenerie ist einem CD-Cover entnommen. Doch dieses löste die Resonanz aus, in der sich Erinnerung und Projektionen mischen, in der Möglichkeit als Teil subjektiv empfundener Wirklichkeit Gestalt annimmt. Auf den Bildern dieser Werkphase liegt eine Farbe der Erinnerung. Schleier, Aura und Patina sprechen aus dem Sepia-Ton. Im Kolorit vermischen sich Sehnsucht, gespannte Erwartung und Begegnungseuphorie mit Erinnerungsenergie. Vergangenheit und Gegenwart treffen sich im Zeichenhaften der Szenerie. Neben Situationen aus dem städtischen Leben treten Rückblenden in die Biografie des Künstlers wie das Bild „An der Schleuse". Und es schließen sich Szenen an, die das Verhältnis Maler-Modell betreffen, prägnant in einem Bild-Zitat aus Jacques Rivettes Film „Die schöne Querulantin". Wer genau hinschaut, sieht den Maler am rechten oberen Rand ins Bild hinein gestellt. Frauenbildnisse nehmen einen breiten Raum im Werk des Künstlers ein. Meist bleibt offen, ob die Protagonistinnen in der Biografie des Künstlers eine Rolle spielen oder der Medienwelt entnommen sind. Das Spiel mit der Rollenunbestimmtheit und mit Möglichkeiten hat seinen Reiz. In einer gleichzeitig intimen und lichten Szene malt der Künstler eine Schülerin im Atelier. Die Frau kehrt dem Betrachter den Rücken zu. Erneut dieser Blick des stillen Beobachters. Es ist nicht zu entscheiden, ob sich die Frau unbeobachtet fühlt oder ob sie so in ihre Arbeit versunken ist, dass sie sich von dem Beobachter nicht ablenken lässt. Das Bild hält eine mehrfache Spiegelung fest. Der Maler malt die Schülerin, die ihrerseits an einer Staffelei sitzend an einem Bild malt, an dem eine Entwurfsskizze lehnt. Die Malerei wird hier selbst zum Thema. Das Licht, das von links in den Raum fällt, überstrahlt den Fensterrahmen und die Kleidung der Malerin. Auch die Fußbodendielen lösen sich zum selbstbezüglichen Farbspiel auf. Solche Segmente reiner Malerei, die immer wieder in den Bildern Schnibbes zu finden sind, orchestrieren die konkrete Szene, greifen die Raumatmosphäre auf und steigern die Intensität des malerisch eingefrorenen Moments, der kreative Anspannung und erotische Ausstrahlung vereint. In den jüngsten Arbeiten lichtet sich die Farbpalette. Ein Beispiel ist das Bild „Fischen“. Dynamik der Tätigkeit und die Weite des Schauplatzes verbinden sich. Der Betrachter spürt die Identifikation der Akteurs mit seinem Tun. Den Standort in der Dynamik finden, könnte eine mögliche Erweiterung des Motivs auf eine allegorische Ebene sein. Mensch und Natur in der Resonanz lassen aber nicht den gewaltsamen Eingriff übersehen, der mit dem Eintauchen in die Harmonie verbunden ist. Zwischentöne und eine an Stufen reichere Farbigkeit machen die Bilder der jüngsten Werkphase vielstimmiger und offener. Das Abschattierte, Verrätselte und Abgeschlossene der vorangegangenen Bilder wird aufgebrochen. Die Grundstimmung ist heiterer, gleichwohl gibt der erzählerische Reichtum breiten Raum für Assoziationen. Eine Frau auf einer Veranda ist aus einer auffälligen Distanz gemalt, so als solle die stille Harmonie, die Einbettung der Dargestellten in den Raum nicht gestört werden. In diese Übereinstimmung zwischen Figur und Raum mischt sich aber auch ein Moment des Alleinseins. „Große Erwartungen" heißt eine Komposition, die zwei Kinder auf der Schwelle zum Jugendalter im Tanz zeigt. Die Szene, in der alles auf Anfang zu stehen scheint, spielt sich in einem großen Raum ab, dessen ausgreifende Fenster den Anschluss an eine üppig rankende Natur bieten. Das Licht öffnet Räume, Wachstum zeigt sich ornamental und naturalistisch, erste zärtliche, scheue Begegnungen deuten sich an. Alles scheint offen und möglich, die Drehungen der Tanzenden, die Wege der beiden können in alle Richtungen gehen. Aktuelle Bilder Peter Barthold Schnibbes zeigen zum Teil offen Rückblenden in vergangene Jahrzehnte. In dem Bild „Else Kempskys Trinkhalle“ ist nicht nur die Szenerie schnell als historische zu identifizieren, der Maler zitiert auch die Ästhetik der Zeit und bindet den Betrachter in ein nostalgisches Stimmungsbild ein. Vermutlich klingt auch hier Biografisches nach. Doch letzte Entschlüsselung steht nicht im Mittelpunkt. Eine vergangene Kultur und Form der Öffentlichkeit, eine andere Qualität der Begegnungen, ein historisch gewordenes Alltagstempo klingen nach. Eine Tür steht hier verheißungsvoll und verrätselnd offen wie ein Portal in eine andere Welt. Es ist nicht die Tür in eine Vergangenheit, ohne die kein Aufschluss über die Gegenwart zu gewinnen ist. Jeder Rückblick dient der Klärung des aktuellen Standpunkts, je offener die Haltung gegenüber dem Gestern ist, desto bewusster und reicher lässt sich das Heute fühlen und gestalten. In „Theater“ bestimmen eine Baustellensituation und die Rückseite von Großstadtarchitekturen das Bild. Erst allmählich wird das zentrale Motiv erkennbar, auf das die Komposition fokussiert ist. In einer Tür tritt eine tanzende Frau auf, weit entfernt, entsprechend klein. Doch in ihrer stillen Dynamik belebt sie die profane Szene, verlängert die Bühne, auf die das Schild verweist, in den Außen- und Rückraum. Der Ernst der Arbeit wird vom Spiel überstrahlt, der bewegte Körper stellt sich dem Konstrukt entgegen. Nathalie Wood tanzt klein aber bestimmt zur Hintertür heraus. Der Effekt hat den Künstler an ein Foto Arnold Newmans von Edward Hopper sitzend im Vordergrund und seiner Frau tanzend im Hintergrund erinnert. Derartige Bildfunde besitzen eine eigene Magie, der Maler greift sie auf und intensiviert sie, reichert den Realismus der Darstellung mit der Energie des Zeichenhaften an. In dem Bild „Local Honey“ umrahmt ein älteres Paar hinter einem Verkaufsstand ein Mädchen, auf das eine Schrifttafel vor der Ware gleichfalls anwendbar erscheint. „Local Honey“, der süße wertvolle Nachwuchs, wird in dieser familiengeschäftlichen Idylle bestens beschützt, vielleicht durchaus schon gegen den Willen des Mädchens, das auf dem Weg ins Jugendalter oder schon Erwachsenwerden ist. Ein aufgebrochenes Ei in der Auslage schließt zeichenhaft an die Figurengruppe an. Wer genau hinschaut, sieht die Spuren des geschlüpften Kükens. Die Szenen strahlen wärmende Erinnerung aus, reichern die aktuelle Wahrnehmung mit immer neuer, immer anderer Wiedererkennung an, spiegeln die empfindsame Einfühlung des Künstlers in Orte und Protagonisten wider, die Identifikation bereit stellen. In der emotionalen Aneignung der eigenen, häufig erst spät begriffenen Geschichte, die plötzlich aus visuellen Erlebnissen spricht, lässt sich die aktuelle Identität vergegenwärtigen. Künstlerische Arbeit, die immer auch Gestaltung des eigenen Selbst ist und dieses damit fortschreibt, fordert die dafür notwendige Gedanken- und Gefühlsarbeit ein und ruft das dazu erforderliche sinnliche Potenzial ab.
|